Das Gespenst von Canterville

 

Leseprobe S. 31/32:
„Man hat sie verhungern lassen? Oh, Mr. Gespenst, Pardon, Sir Simon, sind sie hungrig? Ich habe ein belegtes Brötchen in der Tasche. Möchten Sie das?“
„Nein, danke, ich esse jetzt gar nichts mehr. Aber es ist doch recht freundlich von Ihnen, und Sie sind auch viel netter als Ihre übrige, schreckliche, rohe, vulgäre, ehrlose Familie.“
„Halt!“ rief Virginia und stampfte mit dem Fuß auf. „Sie sind roh und schrecklich und vulgär, und was Ehrlosigkeit betrifft, so wissen Sie, daß Sie die Farben aus meinem Malkasten gestohlen haben, um den lächerlichen Blutfleck in der Bibliothek aufzufrischen. Zuerst haben Sie alles Rot weggenommen, Karmin eingeschlossen, und ich konnte keine Sonnenuntergänge mehr malen, dann haben Sie zu Smaragdgrün und Chromgelb gegriffen, und schließlich blieb mir nichts als Indigo und Chinesischweiß, und ich konnte nur noch Mondlandschaften tuschen, und die sind immer so traurig und dabei so schwierig!“

In ein altehrwürdiges englisches Schloß zieht die amerikanische Familie Otis ein, dies paßt jedoch dem Hausgespenst überhaupt nicht. Mit allen möglichen Tricks versucht der Geist seine neuen Untermieter zu vertreiben, doch diese erweisen sich als ziemlich harte Brocken. Irgendwie fürchtet keiner das Gespenst, im Gegenteil, man macht sich über den armen verstorbenen Sir Canterville lustig und treibt so seine Späßchen mit ihm, bis das Gespenst eines Tages durch Virginia, die einzige Tochter der Familie Otis erlöst wird.

Das Gespenst von Canterville ist ein Meisterwerk von Oscar Wilde. Als ich es zuerst in die Finger bekam machte ich gerade mit meinen Freundinnen Urlaub und wir hatten ein wenig Pech mit dem Wetter. So beschlossen wir, in unserem Appartement zu bleiben und jeder nahm sich was zu lesen. Ich hatte „unglücklicherweise“ mir ein paar Tage zuvor das Gespenst von Canterville als Reclam Ausgabe besorgt, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch der Ansicht war, daß die Reclam Hefte nur dazu erfunden wurden, um Schülern das Leben schwer zu machen. Jedenfalls konnte ich mich bei der Lektüre bald nicht mehr halten vor Lachen und so wurde ich dazu verdonnert vorzulesen. Als ich nicht mehr konnte übernahmen nacheinander meine Freundinnen. Dieser Roman hat mir einen der lustigsten Nachmittage meines Lebens verschafft und ich habe ihn auch später noch mehrere Male gelesen.  Der Wortwitz von Oscar Wilde ist einfach unübertrefflich, die Ideen sind richtig lustig und das Verhalten der amerikanischen Familie so seltsam, wie es einem englischen Gespenst nur vorkommen kann. Wer sonst, außer den Amis, würde wohl historische Blutflecken mit Fleckenentferner behandeln…
Das Gespenst von Canterville ist schon zahlreich verfilmt worden, u.a. mit Patrick Stewart (Captain Jean Juc Picard von der Enterprise) als armes Gespenst.
Meines Erachtens kommt jedoch keine dieser Verfilmungen auch nur im Ansatz an das Buch heran. Zu vermuten ist leider, daß einem die Hälfte des Spaßes entgeht, wenn man nicht die englische Originalfassung liest, aber die deutsche Übersetzung ist an sich schon wirklich Klasse.
Völlig unverständlich ist mir nur, warum ich im Englischunterricht nie etwas von Oscar Wilde zu lesen bekam; ist es wirklich so schlimm, wenn Schüler Spaß am Unterricht haben?

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